Alexander Renner

Gehirn Interferenz
Ziel verfehlt weil abgelenkt: Interferenzen im Gehirn

Ah, sie kennen das: Sie arbeiten an einem Ziel, egal wie alltäglich es sein mag und werden abgelenkt. Das Ziel wird verfehlt. Man nennt das Interferenz im Gehirn. In diesem Artikel gehe ich darauf ein, warum wir überhaupt vom Ziel abkommen, welche Arten von Interferenzen wir haben und was das überhaupt ist.

Was ist eine Interferenz im Gehirn?

Gehirn Interferenz
Ablenkungen und Störungen machen es schwer, an Zielen dran zu bleiben

Neutral betrachtet ist eine Interferenz ein Prozess, der auf einen anderen Prozess einwirkt. Vielleicht kennen sie das von früher noch am Radio, wo man den Regler der Senderwahl drehen konnte. Manchmal überlagerte ein Sender das Signal des anderen. Ein Pfeifen oder Rauschen war die Folge – die Interferenz.

Wenn sie beispielsweise zum Kühlschrank gehen wollen, um dort etwas herauszunehmen, ist das ein Ziel. Liegt auf dem Weg ein Papierchen am Boden, das sie aufheben und in den Mülleimer werfen, ist das eine Interferenz, die das Erreichen des ursprünglichen Ziels behindert, verzögert oder gänzlich verhindert. Das Papierchen hat dazwischen gefunkt, wie beim Radio.

Eine Ziel-Interferenz tritt also auf, wenn sie eine Entscheidung für ein Ziel gefällt haben und etwas kommt ihnen dazwischen, das sie daran hindert, das gesetzte Ziel im geplanten Rahmen zu erreichen. Bleiben wir ruhige bei den kleinen Alltagsbeispielen wie Staubsaugen, zum Tanken fahren oder sich mit jemanden beim Essen unterhalten.

Interne und externe Störung

Woher kommen nun die Störungen? Sie können von ihnen selbst heraus kommen, als Gedanken im Geist. Das ist die interne Störung. Sie kann aber von außen über Sinneseindrücke vordringen, wie das Papierchen am Boden, die Geräuschkulisse im Restaurant oder das Handypiepsen– die externe Störung. Ziel-Interferenzen können auch gleichzeitig aus beiden Quellen her kommen, intern und extern. Das Handypiepsen macht sie neugierig. Sie fragen sich, wer da jetzt was schreibt, nehmen es in die Hand und gucken nach.

Ablenkung und Unterbrechung

Dann haben wir noch zwei Arten der Interferenz. Die Ablenkung und die Unterbrechung. Sie hängen von ihrer Entscheidung ab, wie sie die Störung behandeln. Lassen sie sich nur schnell ablenken, wie mit dem Papierchen am Boden, das sie nach dem Mülleimer schlußendlich doch zum Kühlschrank führt.  Der Grund der Ablenkung ist ziel-irrelevant, hat also mit der Ziel-Erreichung nichts zu tun.

Vielleicht aber ist die Störung auch so, daß sie ihr Zielvorhaben vorerst komplett aufgeben und etwas anderes statt dessen tun. Das wäre dann die Unterbrechung, egal wir kurz die sein mag. Multitasking ist hier das Zauberwort. Der größte Unterschied zur Ablenkung ist hier ihre Entscheidung, sich gleichzeitig auf eine konkurrierende zusätzliche Aufgabe einzulassen, auch wenn sie schnell zwischen beiden Tätigkeiten hin-und-her wechseln.

Das Schaubild (1,2) zeigt die 4 Möglichkeiten sehr einfach. Wir gehen sie nacheinander durch:

Nehmen wir doch für die 4 Kombinationen ein Beispiel aus früheren Zeiten ohne technische Geräte, das sie hoffentlich heute auch noch erleben: Sie sitzen mit ihrem Partner oder der Partnerin (er sprachlichen Einfachheit belasse ich es in der Betrachtung beim Partner) in einem Restaurant und wollen etwas besprechen, was ihnen am Herzen liegt. Dafür habe sie sich extra aus dem Familienalltag herausgezogen und sind in eine neutrale Umgebung gegangen.

Interne Ablenkung

Sie sitzen also nun mit ihrem Partner beim Essen und folgen dem interessanten Gespräch. Auf einmal aber schießt ihnen ein anderer Gedanke in den Kopf: “Warum merken die im Verein nicht, wie gut meine Leistungen in dieser Saison sind?”

Das ist eine klassische interne Ablenkung, die wir als Mind Wandering bezeichnen.

Externe Ablenkung

Genauso häufig passiert es uns, daß wir durch Sinneseindrücke in der direkten Umgebung abgelenkt werden. Sie sehen etwas, hören Geräusche, spüren Kälte auf der Haut und so weiter. Diese sind für ihr Ziel, sich mit ihrem Partner zu unterhalten, nicht relevant. Sie hören am Nebentisch, wie jemand über einen Kinofilm spricht, in den sie demnächst auch gehen möchten. Das hat zwar nicht direkt was mit ihnen zu tun, aber allein die Tatsache, dass sie den Namen des Films immer wieder hören, lenkt den Fokus auf das Gespräch am Nebentisch, weg von ihrem Ziel.

Somit merken sie also: Die externe Information die für ihr Ziel nicht relevant ist, bringt sie von ihrem Ziel ab. Genau wie beim internen Mind Wandering.  Auch wenn sie sich dagegen wehren. Es passiert einfach.

Interne Unterbrechung

Das Gespräch wird langsam uninteressant für sie. Das Wichtigste ist besprochen. Sie entschliessen sich, darüber nachzudenken, ob sie in den Kino-Film gehen wollen oder lieber doch nicht, während sie weiter aktiv am Gespräch mit ihrem Partner teilnehmen.

Diese Art freiwilliges internes zweites Ziel, zu entscheiden, ob sie den Kinofilm besuchen oder nicht ist eine interne Unterbrechung ihres ursprünglichen Zieles, sich mit ihrem Partner beim Abendessen zu unterhalten.

Externe Unterbrechung

Zurück zu unserem Beispiel: Während sie sich mit ihrem Partner unterhalten, hören sie am Nebentisch, wie sie die Beiden dort angeregt über den Kinofilm unterhalten. Sie entscheiden spontan, dort mitzulauschen, aber weiter an der Unterhaltung an ihrem Tisch teilnehmen.

Diese Art der Unterbrechung kennen sie als Multitasking. Sie versuchen dabei sich gleichzeitig an zwei oder mehreren Aufgaben zu engagieren, die von einander unabhängige Ziele haben.

Warum unterliegen wir diesen Interferenzen?

Grundsätzlich sind alle komplexen Systeme anfällig für Einflüsse und Störungen aller Art, den Interferenzen. Dabei ist es egal, ob das ein Computer, ICE, Flughafen oder unser menschliches Gehirn ist. Je komplexer das System ist, umso größer wird die Anfälligkeit für Interferenzen und umso höher die Chance, die Leistung des Systems zu beinträchtigen.

Das Gehirn als Komplexes System

Das menschliche Gehirn ist das momentan komplexeste System, das wir kennen. Da wundert es nicht, daß es für alle möglichen Einflüsse empfänglich ist, in jeder Hinsicht. Unser Gehirn ist deshalb so anfällig für Störungen aller Art, weil unsere Ziele einerseits so komplex sind und wir andererseits sehr limitiert in der Ausführung sind.

Wir können uns mit unserem Gehirn high-level Aufgaben setzen, eine der größten Errungenschaften in seiner Entwicklungsgeschichte (3). Sie sind untereinander verwoben, zeitgebunden, von Unter- und Zwischenzielen abhängig und auf die Leistung anderer Menschen (Gehirne) angewiesen.

Allein die Möglichkeit, uns solch komplexe Ziele zu setzen, hat im Laufe der Zeit zur Kulturen, Gemeinschaften und unterschiedlichen Gesellschaften geführt. Wir haben Sprachen, Kunst, Bauwerke, Musik und Technologien entwickelt.

Unsere Fähigkeit, derartig abstrakte komplexe Ziele zu setzen und in Gemeinschaften daran zu arbeiten ist nur die halbe Miete. In unserem Gehirn sind die Fähigkeiten der kognitiven Kontrolle nicht so stark entwickelt wie die exekutiven Funktionen (evaluieren, entscheiden, organisieren und planen). Die kognitive Kontrolle umfasst Aufmerksamkeit, Erfahrungsgedächtnis und Zielmanagement.

Beschränkte Aufmerksamkeitsspanne

Wir Menschen haben nur eine sehr beschränkte Aufmerksamkeitsspanne, können den Fokus auf Dinge nur kurze Zeit halten. Das menschliche Gehirn kann Detailinformationen nur kurze Zeit aktiv abrufbar speichern. Und schließlich können wir nicht gut unterschiedliche Ziele, die nichts miteinander zu tun haben, managen oder zwischen konkurrierenden Zielen hin und her wechseln.

Wären unsere kognitiven Kontrollfähigkeiten genauso gut entwickelt wie die, komplexe Ziele zu setzen, dann würden wir bei weitem nicht so anfällig für Interferenzen aller Art sein.

Zu altes Gehirn

Die Erklärung für das Problem ist: Wir haben für die komplexe neue High-Tech Welt ein zu altes Gehirn. Seine Fähigkeiten sind auf die Welt, die wir uns geschaffen haben, nicht ideal ausentwickelt. Der Konflikt besteht zwischen unseren exekutiven Zielsetzungs-Fähigkeiten, die immer noch komplexer werden und unseren Ziel-Umsetzungsfähigkeiten, die nicht so hoch entwickelt sind. Und genau darin besteht das Dilemma: Wir wollen ja aber können es schlicht nicht besser.

Lesetip zum Vertiefen: The Distracted Mind: Ancient Brains in a High-Tech World* von Adam Gazzely und Larry D. Rosen

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Quellen:

1: W.C. Clapp, A. Gazzaley, 2016, MIT Press, The conceptual framework for classification of different types of interference, aus The Distracted Mind: Ancient Brains in a High-Tech World, Kap 1, S. 5

2: W.C. Clapp, A. Gazzaley, 2012, Distinct mechanisms for the impact of distraction and interruption on working memory in aging. Neurobiologyofaging.org, 33, 134–148.

3: Frederick Coolidge, Thoma Wine, Executive Functions of the Frontal Lobes and the Evolutionary Ascendancy of Homo Sapiens, Cambridge Archaeological Journal 11/2, 2001, S. 255-260

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